Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 309

freundlich zu sich selbst zu sein, wenn man Leid erfährt, und das eigene Erleben im Lichte der
Erkenntnis zu betrachten, dass wir alle Menschen sind – so fragil und unvollendet wir auch sein
mögen.
Selbstmitgefühl fördert unsere emotionale Resilienz stärker als Selbstwertgefühl. Wenn man die
Effekte des Selbstwertgefühls unberücksichtigt lässt, ist Selbstmitgefühl immer noch eine robuste
(negative) Vorhersagevariable für Depression und Angst
und für Freude, Optimismus und
positiven Affekt
. Und während ein großes Selbstwertgefühl von Leistungserfolgen und
positiven Selbstbewertungen abhängig ist, ist das Selbstmitgefühl genau dann von Bedeutung,
wenn unser Selbstwertgefühl ins Wanken gerät – also wenn wir versagen oder uns unzulänglich
fühlen. In der Studie von Neff, Kirkpatrick und Rude
mit dem simulierten Vorstellungsgespräch,
in der Probanden gebeten wurden, ihre größte Schwäche zu beschreiben, erwies sich
Selbstmitgefühl als Schutz vor Angst, während dies für das Merkmal „Selbstwertgefühl“ nicht der
Fall war.
Leary et al
stellten fest, dass bei einer Beschäftigung mit hypothetischen Szenarien, die mit
Versagen oder Peinlichkeit zu tun haben (wenn zum Beispiel jemand für den verlorenen
Leichtathletikwettkampf eines Teams verantwortlich ist), die Studienteilnehmer mit größerem
Selbstmitgefühl weniger negative Affekte (wie Traurigkeit oder Demütigung) und mehr emotionalen
Gleichmut (wie Ruhe und Unaufgeregtheit) berichteten. Im Gegensatz dazu ergab die generelle
Ausprägungen von Selbstwertgefühl keine Erklärungsvarianz mehr für die Ergebnisse, nachdem
die Selbstmitgefühlswerte herausgefiltert wurden. In einer anderen Studie wurden die Teilnehmer
gebeten, sich kurz in einem Video vorzustellen (mit Interessen, Zukunftsplänen usw.).
Anschließend erhielten sie von einem vorgeblichen Beobachter ein positives oder ein negatives
Feedback zu dieser Vorstellung. Und im Anschluss daran wurden die Teilnehmerreaktionen auf
das Feedback mit ihren Attribuierungen aus dem Beobachter-Feedback ausgewertet. Personen
mit geringem Selbstmitgefühl zeigten dabei eher defensive Attribuierungen. Sie waren mit größerer
Wahrscheinlichkeit geneigt, das Feedback des Beobachters ihrer eigenen Persönlichkeit
zuzuschreiben, wenn das Feedback eher positiv als negativ ausfiel. Bei Personen mit hohem
Selbstmitgefühl war jedoch eine gleich große Wahrscheinlichkeit gegeben, das Feedback ihrer
eigenen Persönlichkeit zuzuschreiben – egal, ob es positiv oder negativ ausfiel. Ein gegenteiliges
Muster ergab sich beim Selbstwertgefühl. Personen mit geringem Selbstwertgefühl schrieben das
Feedback, unabhängig davon, ob es positiv oder negativ ausfiel, mit gleich großer
Wahrscheinlichkeit ihrer Persönlichkeit zu, wohingegen Studienteilnehmer mit starkem
Selbstwertgefühl das Feedback mit größerer Wahrscheinlichkeit ihrer eigenen Persönlichkeit
zuschrieben, wenn es eher positiv als negativ ausfiel. Dies lässt vermuten, dass Menschen mit
Selbstmitgefühl anerkennen und annehmen können, dass es in ihrer Persönlichkeit sowohl
negative als auch positive Aspekte gibt. Die Aufrechterhaltung eines großen Selbstwertgefühls
hängt dagegen stärker von positiven Selbstbeurteilungen ab und kann deshalb zu kognitiven
Verzerrungen führen, mit denen man versucht, die positiven Selbsteinschätzungen zu erhalten
.
In einer Umfrage mit einer großen Anzahl von Befragten, die in den Niederlanden durchgeführt
wurde, erwies sich Selbstmitgefühl als stärkere Vorhersagevariable für das Wohlbefinden als
Selbstwertgefühl
Über einen Zeitraum von acht Monaten (und zwölf Bewertungszeitpunkten)
war Selbstmitgefühl mit einer größeren Stabilität bezüglich der Selbstachtung assoziiert als das
Merkmal Selbstachtung. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Selbstmitgefühl laut der
Umfrage auch in einem geringeren Maße von Faktoren wie körperlicher Attraktivität oder
Leistungserfolg abhing, als dies beim Selbstwertgefühl der Fall war. Die Ergebnisse enthielten
weiterhin Hinweise darauf, dass Selbstmitgefühl weniger als Selbstwertgefühl mit sozialem
Vergleich, öffentlichem Selbstbewusstsein, Rumination über sich selbst, Ärger und kognitiver
Verschlossenheit assoziiert war. Zudem wies das Merkmal Selbstwertgefühl eine solide
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