Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 308

Selbstmitfühlende Menschen werden zwar mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit von negativen
Emotionen überflutet, sind aber interessanterweise eher bereit, schwierige Gefühle zu erleben und
sie als zulässig und wichtig anzuerkennen
. Das Schöne am Selbstmitgefühl ist, dass nicht
einfach negative Gefühle durch positive ersetzt werden, sondern neue positive Emotionen der
Anteilnahme und Verbundenheit durch die
Annahme
der negativen erzeugt werden, sodass beide
gleichzeitig erlebt werden können (siehe auch
. Da erstaunt es nicht, dass
Selbstmitgefühl auch eng mit positiven Emotionen wie Glücklichsein, Lebenszufriedenheit,
Optimismus, Neugier, Begeisterung, Interesse, Inspiration und Enthusiasmus verbunden ist
Self-Compassion versus Self-Esteem
Kristin Neff
"Self-Compassion versus Self-Esteem"
02:28 min
Auf den ersten Blick mögen Selbstmitgefühl und Selbswertgefühl ziemlich ähnlich erscheinen, ihre
Unterscheidung ist dennoch wichtig. Selbstwertgefühl bezieht sich auf das Maß, in dem wir uns
selbst positiv beurteilen. In der amerikanischen Kultur bedeutet ein hohes Selbstwertgefühl, dass
man sich aus der Masse hervorhebt, etwas Besonderes und überdurchschnittlich ist. Dort besteht
ein Grundkonsens darüber, dass Selbstwertgefühl wesentlich für die seelische Gesundheit ist,
während ein Mangel an Selbstwertgefühl das Wohlbefinden stört, weil es Depressionen, Angst und
andere Pathologien verstärkt
. Großes Selbstwertgefühl birgt jedoch auch Probleme mit sich,
die nichts mit dem Vorhandensein des Selbstwertgefühls an sich zu tun haben, sondern wie man
es erwirbt und aufrechterhält. Forschungsergebnisse enthalten zunehmend Hinweise darauf, dass
dysfunktionale Verhaltensweisen (wie Voreingenommenheit, Narzissmus oder das Kleinmachen
anderer) zum Teil deshalb entwickelt werden, weil man sich selbst ein starkes Selbstwertgefühl
verschaffen will
Selbstwertgefühl ist auch tendenziell von bestimmten Kriterien abhängig (wie
intelligent, attraktiv oder beliebt zu sein) und schwankt, abhängig von unseren aktuellen Erfolgen
oder Misserfolge
. Im Gegensatz dazu gründet sich das Selbstmitgefühl nicht auf positive
Bewertungen oder Beurteilungen, sondern ist eine Weise der
Beziehung
zu uns selbst. Menschen
fühlen Mitgefühl für sich selbst, weil sie menschliche Wesen sind, und nicht, weil sie besonders
oder überdurchschnittlich sind. Man muss sich also beim Selbstmitgefühl nicht besser als andere
fühlen, um sich gut zu fühlen. Selbstmitgefühl bietet zudem eine größere emotionale Stabilität als
das Selbstwertgefühl, weil es quasi immer für einen da ist – unabhängig davon, ob man gerade
ganz oben auf ist oder voll auf die Nase gefallen ist.
Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Merkmalsebenen von Selbstwertgefühl und
Selbstmitgefühl mäßig korreliert sind
Dies erstaunt nicht, da beide Konstrukte eine positive
emotionale Haltung gegenüber dem eigenen Ich repräsentieren. Auf die gleiche Weise sind sowohl
Selbstwertgefühl als auch Selbstmitgefühl mit emotionalem Wohlbefinden assoziiert – so zum
Beispiel geringere Angst und Depressionen sowie stärkeres Glücklichsein, erhöhter Optimismus
und stärkere Lebenszufriedenheit. Anders als bei dem Selbstwertgefühl hängen die mit
Selbstmitgefühl verbundenen gesunden Seelenzustände allerdings nicht von positiven
Selbstbewertungen, von der Erfüllung festgelegter Standards oder von günstig ausfallenden
Vergleichen mit anderen ab. Sie erwachsen stattdessen aus der Anerkennung der Notwendigkeit,
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