Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 371

gewohnte, ständige, motorische Reaktion in Form des Tastendrucks zu
unterbrechen
. Genau wie
beim CPT war auch bei dieser Aufgabe im Laufe der Zeit bei den Teilnehmern, die nicht im Retreat
waren, ein Leistungsabfall zu erkennen. Wenn die Probanden jedoch an den Meditationsretreats
teilnahmen, zeigten sie zur Halbzeit des Retreats eine geringere Abnahme, wobei sich dieser
Trend nach Ablauf der drei Monate sogar noch verstärkte (
.
Im Gegensatz zur ersten Aufgabe war die Erfüllung dieser Aufgabe nicht mit einem
Wahrnehmungsschwellenwert verbunden. Dies lässt vermuten, dass die verbesserte
Leistungsstabilität bei dieser Aufgabe mit Verbesserungen in einer absolut entscheidenden
kognitiven Fähigkeit zusammenhing: der exekutiven Kontrolle. Exekutive Kontrolle ist der
umfassende Überbegriff für alle Prozesse im Gehirn, die es uns ermöglichen, Ziele aufrecht zu
erhalten und unangemessene Reaktionen zu verhindern. Ein Großteil der buddhistischen Praxis
hat mit der Ausübung eines sehr hohen Maßes an exekutiver Kontrolle zu tun.
Wesentlich war hier, dass wir über komplexe statistische Modellierungen herausfanden, dass
Verbesserungen in der Reaktionsunterdrückung zur Halbzeit des Retreats gegenüber der
entsprechenden Leistung vor dem Retreat tatsächlich ein Prognosefaktor für Verbesserungen der
angepassten Fähigkeiten (engl. adaptive functioning) der Probanden zwischen der jeweiligen
Situation vor und nach dem Retreat waren
Das Schöne an diesem Ergebnis war, dass sich ein
Zusammenhang zwischen einem einfachen, langweiligen, kognitiven
Reaktionshemmungsexperiment und den erlebten Teilnehmererfahrungen herstellen ließ, die aus
den zahlreichen Selbstberichtsfragebögen zu entnehmen waren. In buddhistischen
Unterweisungen werden Menschen dazu angehalten, die Fähigkeit zu kultivieren, in emotional
belastenden Situationen oder Beziehungen reflexartige Reaktionen zurückzuhalten und
stattdessen aus einem tieferen und weiseren „Ort“ heraus zu agieren.
Und was war mit den Gefühlen? Hier wählten wir für unsere Untersuchung einen
Entwicklungsansatz. Drei Monate Vollzeitmeditation klingt lang. Dieser Zeitraum ist allerdings nicht
wirklich lang, wenn es darum geht, unseren emotionalen Umgang mit der Welt zu verändern. Wir
wollten die Gesichtsausdrücke unserer Probanden auf Unterschiede in ihrer Reaktion auf
emotionale Provokationen untersuchen. Dazu evozierten wir mit kurzen intensiven
Filmausschnitten Emotionen und erfassten die Gesichtsausdrücke der Probanden beim
Anschauen dieser Clips unauffällig. Direkt nach dem Anschauen des Films baten wir sie, über ihre
während des Films aufgetretenen Gefühle zu berichten. Dazu arbeiteten wir mit einem indizierten
Wiedererkennungsverfahrens das auf einem visuellen Storyboard der Clips basierte.
Einer der Filmclips, die wir den Teilnehmern am Ende der Retreat-Periode zeigten, stammte aus
dem Film
Fahrenheit 9/11
. Der Clip beginnt mit Szenen aus dem Alltagsleben im Irak vor dem
Krieg, beispielsweise spielende Kinder in den Straßen und in Restaurants sitzende Menschen.
Dann wechselt der Film plötzlich zu Szenen mit Bombardierungen und Raketenangriffen. Danach
wechseln die Aufnahmen zwischen Szenen mit Soldaten, die darüber erzählen, wie sie für den
Kampf eingeschworen werden, und Bildern von leidenden Kriegsopfern. Und schließlich beginnen
weitere Soldaten laut über die tatsächlichen Folgen ihrer Handlungen nachzudenken (siehe
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und sagen, „dass dies kein Videospiel ist“, und es werden weitere Kriegsopfer gezeigt.
Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass das Kontemplationstraining – insbesondere die Praxis
der fördernden Geisteshaltungen – die Menschen im Kontext einer stabileren Aufmerksamkeit
dazu befähigt, sich direkter mit Leid zu konfrontieren. Wir erwarten, dass der übliche emotionale
„Rückzug“ von menschlichem Leid (wie zum Beispiel eine Ekelreaktion auf das Bild einer
schwerwiegenden Verletzung eines Fremden) eher abnimmt.
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