Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 361

Dharamsala zu erforschen, mit vielen interkulturellen Problemen befrachtet waren
Und auch
technologisch war die ganze Angelegenheit eine riesige Herausforderung. Als unser Kollege Dr.
José Cabezón eine zweite Reise antrat, um einige derselben Mönche ein Jahr später mit
computerbasierten Aufgaben zu testen, war ihnen die Laptop-Tastatur zu fremd, als dass sie sie
hätten bedienen können. So mussten sie auf Cabezón zurückgreifen und ihn antippen, damit er
dann die Tasten bediente, was zu sehr variablen Reaktionszeitdaten führte. Dadurch wurden die
quantitativen Daten unbrauchbar, was aber ein geringes Problem war im Vergleich zu anderen
Differenzen, die eher in den verschiedenen Weltsichten begründet waren. Als wir beispielsweise
am Kopf von Francisco Varela eine Elektrodenkappe anbrachten, um EEG-Wellen zu messen
(
, brachen die Mönche in Gelächter aus, als ob wir den komischsten Witz der Welt erzählt
hätten. Was sie so belustigte, war die Tatsache, dass wir ein Gerät auf der Kopfhaut platzierten,
um etwas im Geist zu messen. Denn für sie befindet sich der Geist ganz offensichtlich nicht im
Kopf, sondern im Herzen.
Der Mönch Geshe Thopgey (
hielt uns einen nachhaltig beeindruckenden Vortrag über die
Natur des Mitgefühls. Als wir ihn fragten, wie sich denn Trauer und Mitgefühl voneinander
unterscheiden könnten, erläuterte er, dass Trauer die Entstehung von Mitgefühl katalysieren
könne, es aber trotzdem separate Geistesströme seien. Und tatsächlich führte er weiter aus, dass
man sogar lernen müsse, die Zustände des Leids so tief zu lieben, wie eine Mutter ihr Kind liebt.
Dadurch werde das Bedürfnis beseitigt, solche Zustände über Aversion zu verdrängen. Nur so
erhalte man eine angemessene Einsicht in die Ursachen und Bedingungen des Leids und
verstehe, wie man möglichst kreativ von Nutzen sein könne.
Es war keine Frage: Diese Mönche waren außergewöhnlich. Natürlich könnte man argumentieren,
dass sie es schon immer gewesen sind. Vielleicht war das Wissen, das sie mit uns teilten, einfach
Teil dessen, wer sie waren, und hatte nichts mit ihrer Meditationspraxis oder ihrer monastischen
Ausbildung zu tun. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir zur Untersuchung der Zusammenhänge
zwischen Meditationspraxis und den Effekten einer solchen Geistesschulung eine
Längsschnittstudie ohne interkulturelle Probleme im Westen durchführen mussten. Deshalb riefen
wir 2007 in enger Zusammenarbeit mit Alan Wallace und einem Forscherteam an der UC Davis
und anderen Orten eine solche Längsschnittstudie ins Leben, das sogenannte Shamatha Project.
Damit griffen wir die Vision Varelas aus dem Jahre 1990 wieder auf. Die Grundidee dabei war,
dass Alan Wallace Menschen aus dem Westen im Rahmen eines dreimonatigen Vollzeit-Retreats
eine Gerichtete-Aufmerksamkeit-Meditation beibringen würde, während wir Wissenschaftler eine
Vielzahl von Veränderungen in psychischen und physiologischen Parametern messen wollten, die
möglicherweise die Lernerfahrungen während der Meditationspraxis reflektieren.
Im Fokus unseres Projektes standen vier Hauptfragen:
(1) Kann Aufmerksamkeit über eine Gerichtete-Aufmerksamkeit-Meditation trainiert werden?
(2) Kann ein Training in liebender Güte, Mitgefühl und anderen nützlichen Bestrebungen die
Aufmerksamkeit fördern und die Emotionsregulation verbessern?
(3) Besteht ein Zusammenhang zwischen verbesserter Aufmerksamkeit und psychischer
Gesundheit?
(4) Welches sind die subjektiven, verhaltensbezogenen, neurologischen und physiologischen
Korrelate eines solchen Trainings?
 Zur Rekrutierung geeigneter Studienteilnehmer warben wir in erster Linie in buddhistischen Print-
und Internetpublikationen und erhielten insgesamt 142 Bewerbungen. Aus diesen Bewerbern
musste eine weitere Auswahl getroffen werden, da nicht alle Kandidaten die körperlichen und
psychischen Anforderungen einer Programmteilnahme erfüllten oder nicht über ausreichende
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