Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 396

beginnen eigentlich mit dem Ziel, uns durch Selbstmitgefühl besser zu fühlen. Dann sind wir
desillusioniert, wenn wir uns ab und zu immer noch schlecht fühlen. Und schließlich lernen wir, uns
selbst anzunehmen, „nicht, damit wir uns besser fühlen, sondern
weil
wir uns schlecht fühlen.“ Es
ist ein Mysterium. Wenn man Selbstmitgefühlstraining dazu verwendet, die Erfahrung des
gegenwärtigen Augenblicks zu manipulieren, wird es unvermeidlich fehlschlagen. Denn das ist
nichts anderes als eine subtile Form des Widerstandes. Wenn wir aber freundlich zu uns selbst
sind, wie wir es beispielsweise zu einem kranken Kind sind – einfach deshalb,
weil
wir uns schlecht
fühlen – dann entsteht als unvermeidlicher Nebeneffekt tiefe Erleichterung. Wie es der
Meditationslehrer Rob Nairn formulierte, ist es unser Ziel, „to become a compassionate mess“
Trainingseinheit 4: Die eigene mitfühlende Stimme entdecken
Nachdem wir gelernt haben, mit Formulierungen zu meditieren, die unsere guten Absichten
unterstützen, wollen wir uns als nächstes den Selbstgesprächen zuwenden. Solche
Selbstgespräche beherrschen unser Leben, wenn etwas schiefläuft, und wir wollen ihre Richtung
ändern – von Selbstkritik („Du Dummkopf!“) hin zur Selbstermutigung („Das hat nicht funktioniert,
aber es war ein guter Versuch. Versuch doch mal einen anderen Ansatz.“). Wir erhalten unsere
Selbstkritik immer ehrlich. Wenn wir
von außen
bedroht werden, ist es eine natürliche Reaktion, die
Gefahr zu bekämpfen. Aber wenn wir durch aufwühlende Emotionen wie Angst, Verzweiflung oder
Scham
von innen
bedroht werden, neigen wir dazu, uns selbst mit Selbstkritik anzugreifen. Dafür
können wir nichts.
Auf einer tieferen Ebene kritisieren wir uns selbst, um uns sicher zu fühlen
So nehmen wir
beispielsweise vielfach an, dass uns Selbstkritik dabei hilft,
• 
künftige Fehler zu vermeiden
uns als Mensch zu verbessern
Beziehungen zu Menschen, die wir verletzt haben, zu reparieren
• 
innerlich mit den Bezugspersonen verbunden zu bleiben, die uns in unserer frühen Kindheit
begleitet haben
 Zunächst reflektieren die MSC-Teilnehmer darüber, wie Selbstkritik scheinbar dazu beiträgt, dass
wir uns verbessern. Dann erläutern wir Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass harte
Selbstkritik in Wirklichkeit Motivation untergräbt, während Selbstmitgefühl Motivation fördert. Es
wird zwischen Selbstverurteilung und Einsicht unterschieden. Wir erläutern dann, wie unser
Bewusstseinsfeld dadurch, dass wir uns ermutigen und unterstützen, offen bleibt und wir so
erkennen können, was schief gelaufen ist, und unsere Fehler korrigieren können. Mit
Selbstmitgefühl versuchen wir uns zu entwickeln und zu verändern, nicht weil wir unzulänglich sind,
sondern weil wir für uns selbst sorgen und nicht unnötig leiden wollen.
 Diese Botschaften werden in der Trainingseinheit 4 in einer Gruppenübung verstärkt, die wir „Die
eigene mitfühlende Stimme entdecken“ nennen. Wir bitten unsere Teilnehmer, über ein Verhalten
nachzudenken, dass sie vielleicht verändern möchten und für das sie sich selbst kritisieren,
beispielsweise „ständig Dinge aufschieben“, „zu wenig Sport treiben“ oder „ungeduldig sein“. Dann
schreiben sie auf, was sie in solchen Situationen tatsächlich zu sich selbst sagen und wie sie sich
dabei fühlen. Das Interessanteste an dieser Übung besteht darin zu erkennen, wie der „innere
Kritiker“ tatsächlich versucht, jemanden vor Schaden zu bewahren, auch wenn diese Strategie
letztendlich verletzend und unproduktiv ist. Die letzten Schritte sind dann noch, dem inneren
Kritiker zu danken und Platz zu machen für eine neue Stimme, der Stimme des „mitfühlenden
inneren Selbst“. Ein Teilnehmer bemerkte dazu einmal: „Ich habe mich selbst immer mit ‚Hey
Der Fortschritt im Selbstmitgefühl lässt sich an der Verfeinerung der Intention ermessen. Wir alle
Miststück’ angesprochen. Jetzt sage ich ‚Hallo Tiger!’“.
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