Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 482

Bei dieser Übung, die in vielen kontemplativen Traditionen üblich ist
beobachtet der
Meditierende Gedanken als mentale Ereignisse. Dabei werden die Gedanken in ähnlicher Weise
wie Naturphänomene betrachtet. Der Meditierende kann beobachten, wie ein Ereignis kommt,
eine Weile bleibt und sich wieder auflöst oder mit dem nächsten Ereignis überlappt. Als Teil
dieser Praxis verwenden die Teilnehmer mentale Bezeichnungen für den Inhalt ihrer Gedanken,
um eine beobachtende, nicht-identifizierte Perspektive darauf beibehalten zu können. Das
können beispielsweise Bezeichnungen wie „Erinnerung“, „Planung“ oder „Bewertung“ sein.
Ziel dieser Praxis ist es, sich von seinen Gedanken zu desidentifizieren und eine
Metaperspektive darauf zu entwickeln und so besser mit der Funktionsweise des Geistes vertraut
zu werden und eine größere Flexibilität in Bezug auf reaktive Gefühle und Handlungen zu
entwickeln.
Perspektive – Kernübung 2: Dyade mit Selbstanteilen
Diese Partnerübung ist während der Entwicklung des ReSource-Protokolls entstanden. Sie
basiert auf der Vorstellung von einer aus unterschiedlichen Anteilen oder Aspekten
zusammengesetzten Persönlichkeit – eine Idee, die in vielen westlichen psychotherapeutischen
Ansätzen verbreitet is
und mit der Vorstellung vom Selbst als einer nicht-einheitlichen,
sich kontinuierlich verändernden Entität zusammenhängt, wie sie auch in einigen kontemplativen
Philosophien vertreten wird
.
Die Übung wird in den gemeinsamen wöchentlichen Trainingseinheiten ebenso wie zu Hause
praktiziert. In den wöchentlichen Einheiten sitzen sich jeweils zwei Teilnehmer, beispielsweise
Anna und Björn, gegenüber. Anna erzählt Björn von einem Erlebnis des aktuellen Tages und
beschreibt dabei zunächst kurz das Ereignis und die Umstände, unter denen es sich zugetragen
hat. Dann erzählt sie das Ereignis erneut, jetzt aber aus der Perspektive eines anderen inneren
Selbstanteils. Dieser Selbstanteil wird aus einer Liste von Selbstanteilen, die sie im Laufe des
Trainings für sich selbst identifiziert hat, nach dem Zufallsprinzip gezogen (siehe Darstellung
weiter unten). Bei der Erzählung des Ereignisses bleibt Anna bei dem, was tatsächlich passiert
ist, interpretiert aber alles aus der Perspektive des gewählten Selbstanteils, was zu anderen
Gedanken, Bewertungen und Emotionen führt. Björn hört achtsam zu, ohne verbal oder
nonverbal darauf zu reagieren. Er hat die Liste mit Annas Selbstanteilen vor sich liegen und
versucht herauszufinden, aus welcher Perspektive dieser gerade erzählt. Nach fünf
Erzählminuten schließt sich eine Schweigeminute an. Anna lässt den Selbstanteil, in den sie
gerade hineingeschlüpft ist, los und öffnet sich für einen Zustand, der als eigene „Mitte“ oder
„Selbst“ bezeichnet werden kan
Dieser ist von keinem der inneren Anteile dominiert. Es ist
Perspektive – Kernübung 1: Gedanken beobachten
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