Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 515

Unterkunft haben. Sie – in der Mitte sitzend - sind eine unvoreingenommene und sensible Person.
Bedenken Sie, dass diese Menschen an Ihren beiden Seiten sich Glück wünschen und frei von
Leid sein möchten. In dieser Hinsicht gleichen sie sich. Aber bedenken Sie jetzt: Die egoistische
Person auf der rechten Seite ist nur eine Person, die Menschengruppe auf der linken Seite ist
dagegen wesentlich größer – welche Seite ist wichtiger? Das egoistische Ich oder die vielen
Hilfslosen? Als die unvoreingenommene Person in der Mitte werden Sie natürlich die größere Zahl
der leidenden Menschen favorisieren.
Durch wiederholte Durchführung dieser drei grundlegenden Übungen sowie anderer Methoden der
Geistesschulung (wie Śamatha und Vipaśyanā) werden sich Mitgefühl, geistige Balance und ein
stärkeres und glücklicheres Herz für die Bewältigung Ihres Alltags entwickeln.
Wie man Handeln und das eigene Verhalten steuern kann
Nach diesen in einem „Schutzraum“ erfolgten Meditationspraktiken begegnen wir dem eigentlichen
Test: Wie verhalten wir uns in der sogenannten wirklichen und geschäftigen Welt? Denn dort
verbringen wir letztendlich den größten Teil unserer bewussten Lebenszeit. Sie ist der Ort, an dem
wir unzähligen Ablenkungen, Auslösern für Aversion und Anhaftung begegnen, wo wir auf
Menschen treffen, von denen wir uns angezogen fühlen, auf Menschen, denen gegenüber wir
neutral reagieren, oder auf Menschen, die wir nicht mögen, und wo wir all die weiteren, unzähligen
Herausforderungen erleben.
Um uns gegen solche Einwirkungen zu schützen und ein erfüllenderes Leben zu führen, lehrt die
buddhistische Mahayana-Tradition sechs Verhaltensgrundsätze. Sie sind in den Sechs
Vollkommenheiten zusammengefasst und stellen Empfehlungen dar, wie man sein eigenes
Verhalten im Alltag steuern kann. Diese Sechs Vollkommenheiten oder Paramitas sind:
Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Bemühen, Konzentration und Weisheit (siehe
. Sie
werden als die Vollkommenheiten bezeichnet, weil ihre Ausübung zu einem klaren Geist beiträgt,
Störungsursachen verringert und uns dazu befähigt, das Potenzial für das eigene Wohlbefinden zu
vervollkommnen. Diese Vollkommenheiten sollen Schritt für Schritt und entsprechend den eigenen
Möglichkeiten angewandt werden. Sie repräsentieren das Herz der buddhistischen Mahayana-
Praxis und gelten als Fundament eines sinnvollen und glücklichen Lebens. Aufgrund der
immensen Bedeutung eines richtigen Verhaltens sind die Richtlinien und Inspirationen zur
Entwicklung des Mitgefühls innerhalb der tibetisch-buddhistischen Tradition (Shantidevas
Anleitungen zum Verhalten eines Bodhisattva) nach diesen sechs Vollkommenheiten strukturiert.
Die Kultivierung von Mitgefühl ist offensichtlich kein Vorgang, den wir nur einmal ausüben, damit
erlernt haben und in unserem Geist dann ständig präsent haben. Wir müssen uns achtsam an
Mitgefühl erinnern und es immer und immer wieder aktiv entwickeln. Das ist auch der Grund dafür,
warum die einzelnen Phasen und Eigenschaften des Mitgefühls wiederholt gehört, erforscht und
kontempliert werden müssen. Nur so werden wir in der Lage sein, eine auf Weisheit und Mitgefühl
basierende Geisteshaltung zu entwickeln und uns entsprechend zu verhalten. Wenn es uns gelingt,
uns inmitten unseres oft mit unachtsamen Aktivitäten ausgefüllten Alltags an Mitgefühl zu erinnern,
wird uns dies die Ruhe des Gleichmuts verleihen und gleichzeitig eine Ursache für weniger Leid
und eine Quelle von größerer geistiger Balance sein.
Um Seine Heiligkeit, den Dalai Lama, zu zitieren: „Mitgefühl verringert die Angst vor dem eigenen
Schmerz und erhöht die innere Stärke. Mitgefühl stärkt die eigene Perspektive und mit diesem Mut
werden wir entspannter. Mitgefühl ist ein unbezahlbares Juwel.“
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