Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 510

ist natürlich schwieriger. Deshalb ist es ratsam, zunächst eine einfachere Zielperson zu wählen und
beispielsweise mit jemandem zu beginnen, zu dem man eine gute Beziehung hat. Aber wie Sie
sicherlich wissen, kann selbst ein Ihnen nahestehender Mensch manchmal Unmut in Ihnen
auslösen. Und warum? Was ist es, das Sie in einem solchen Fall so ärgert? Genau in diesem
Moment nehmen Sie diesen Menschen – dem Sie sich normalerweise nahe fühlen – wie einen
Feind Ihrer inneren Balance wahr. Er stört Ihr Wohlbefinden. Was können Sie in einer solchen
Situation also tun? Zunächst müssen Sie sich den geistigen Vorgang bewusst machen. Und dann
müssen Sie erkennen, an welcher Stelle der Entfaltung Ihrer Emotionen Sie sich gerade befinden.
Befinden Sie sich am Anfang eines Prozesses, wo gerade ein kleiner Funke in Ihnen etwas
entzündet hat? Befinden Sie sich bereits mitten in einer wütenden Verteidigung? Oder finden Sie
erst zur Klarheit zurück, wenn alles vorbei ist und Sie sich beruhigt haben?
Wann immer Sie sich dieser mentalen Veränderung und Ihrer Reaktion bewusst werden, sollten
Sie geduldig mit sich sein. Nachsicht ist der direkte Gegenspieler zur Wut und durch Anwendung
von Geduld – wenn es sein muss, auch wiederholt – kehrt die Klarheit allmählich in Ihren Geist
zurück. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan. Aber ohne eine Geistesschulung wird es nie
leicht gelingen. Und genau deshalb vergegenwärtigen wir uns in vielen Praktiken mental
unterschiedliche Situationen, damit wir uns mitten in einem tatsächlich eintretenden Ereignis
bewusst werden, was geschieht, und dann eine angemessene Reaktion abrufen können. Und mit
zunehmendem Training können wir allmählich immer besser mit schwierigeren Situationen
umgehen.
Während des Einübens von Mitgefühl und liebender Güte durchläuft man typischerweise zahlreiche
Phasen, die sich im Übungsschwerpunkt voneinander unterscheiden und von leichteren zu
schwierigeren Meditationsarten reichen. Mit fortschreitendem Schwierigkeitsgrad können
beispielsweise Praktiken eingeübt werden, die sich 1) auf einen selbst, 2) auf einen guten Freund,
3) auf eine neutrale Person, 4) auf eine schwierige Person, 5) auf einen selbst, einen guten
Freund, eine neutrale Person und eine schwierige Person und schließlich 6) auf das gesamte
Universum erstrecken.
Sechs-Stufen-Prozess
Nach der theoretischen Einleitung werden jetzt sechs Schritte zur Entwicklung von Mitgefühl
erörtert. Dieser sechsstufige Prozess lässt sich in jeder Meditationssitzung, aber auch außerhalb
eines solchen Settings umsetzen:
1. Grundlegender Schritt des Gleichmuts: Erkennen, dass sich jeder Mensch die Anwesenheit
von Glück und die Abwesenheit von Leid wünscht
2. Meditieren über jeden Menschen, als ob er ein Nahestehender wäre – dabei können der
beste Freund oder die Mutter als Vorbild dienen
3. Reflektieren über die (beabsichtigte und unbeabsichtigte) Güte von einzelnen Menschen
4. Den Entschluss entwickeln, Güte zu erwidern
5. Liebende Güte auf drei Ebenen meditieren (Freund, neutrale Person, Feind)
6. Überblick über die drei Mitgefühlsebenen sowie Erweiterung durch Weisheit: Mitgefühl für drei
Ebenen von Leid, Mitgefühl für Unbeständigkeit und Substanzlosigkeit, Mitgefühl im Hinblick
auf leere Wesenheiten
1.
Wie erwähnt, besteht der erste Schritt in der Entwicklung von Gleichmut. Mitgefühl beginnt damit
zu realisieren, dass sich alle Wesen, seien es nun Menschen oder Tiere, die Anwesenheit von
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