Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 506

und Umständen, die zusammenkommen müssen, um einen vollständig stabilen Geisteszustand zu
erreichen. Da der Geist kontinuierlich in Bewegung ist, scheint es zuweilen eine unmöglich zu
bewältigende Herausforderung zu sein, den Geist zu fokussieren und gleichzeitig leuchtend klar zu
sein. Ohne eine richtige Vorbereitung und einen unterstützenden Kontext führen Śamatha-
Praktiken nicht zum beabsichtigten Ergebnis einer stabilen Klarheit. Deshalb geht es zunächst
darum, nicht-förderliche Handlungen und Umstände zu beseitigen, die durch schädliche
Prägungen verursacht werden und diese wiederum aufrechterhalten. Dann müssen positive
Handlungen entwickelt und Umstände geschaffen werden, die förderliche Prägungen unterstützen.
Zum Dritten muss man die Praxis tatsächlich ausüben, indem man den Fokus auf das gewählte
Objekt aufrechterhält.
Die Praxis beginnt damit, Intention oder Motivation festzulegen, um Richtung und Zweck des
eigenen Wirkens zu klären. Dies lässt sich mit der Festlegung eines Reiseziels und einer
Reiseroute bei Antritt einer Reise vergleichen. Im buddhistischen Kontext dienen solche Praktiken
nicht nur der persönlichen Zielerreichung, sondern immer auch dem Wohlergehen aller
Lebewesen.
Alle Śamatha-Systeme und -kategorisierungen stimmen darin überein, dass auf den Schritt der
Entwicklung einer positiven Motivation als Nächstes die Schulung der Aufmerksamkeit folgt. Dies
geschieht, indem man sich auf ein Objekt im Äußeren (wie eine Kerze oder ein Bild), ein inneres
Objekt (Gedanken) oder auf etwas zwischen den beiden Extremen Außen und Innen, etwa den
Atem, konzentriert. Traditionell wird der Atem gewählt, weil er als ideale Bezugs- und
Beobachtungsgrundlage dient und immer verfügbar ist. Es gibt unzählige Methoden und
Techniken, den Atem zu beobachten. Wenn wir das gewählte Objekt (etwa den Atem) beobachten,
wird uns hauptsächlich bewusst, wie beschäftigt der Geist doch ist.
Durch Einsatz von Achtsamkeit, wachsamer Introspektion und Behutsamkeit in der Lenkung des
Geistes führt man seine Aufmerksamkeit kontinuierlich auf das fokussierte Objekt zurück. Zur
Achtsamkeit und zur wachsamen Introspektion gibt es natürlich sehr viele verschiedene
Definitionen. Sinnvoll ist es, Achtsamkeit als den Vorgang zu begreifen, bei dem niemals
vergessen wird, was zu tun und was nicht zu tun ist, und wachsame Introspektion als die
kontinuierliche Erforschung des eigenen Verhaltens in Gedanken, Wort und Tat zu verstehen. Und
die Behutsamkeit ist dann eine aufmerksame und verantwortungsbewusste Umsetzung des
Grundsatzes, was anzunehmen und was abzulehnen ist.
Durch diese Bemühungen wird der eigene Geist stabiler, klarer, friedlicher und funktionsfähiger.
Sobald der Geist ruhig und unerschütterlich ist, kann der konzentrierte und klare Geist dazu
dienen, die eigenen Prozesse des Geistes zu erforschen, so wie der Wissenschaftler ein
Mikroskop benutzt. Diese Methode der Beruhigung des Geistes ist der erste Teil der Śamatha-
Praxis des Ruhigen Verweilens. Danach ist man in der Lage, die positiven Qualitäten des Geistes
wesentlich wirksamer zu entfalten.
Die tibetische Tradition kennt eine weitere Zweiteilung von Meditationskategorien: die analytische
und die stabilisierende Meditation. Bei der analytischen Meditation untersucht der Meditierende
mehrere Aspekte eines gewählten Objektes und eigene Annahmen. Bei der stabilisierenden
Meditation fixiert der Meditierende dagegen seinen Geist in einsgerichteter Konzentration auf ein
Objekt, ohne die Aspekte des Objektes näher analytisch untersuchen zu wollen.
Sobald der Geist sich nach und nach mit den Praktiken vertraut gemacht hat, ist ein festes
Fundament für positive Qualitäten wie Mitgefühl geschaffen und diese können weiter entwickelt
werden. Was Umfang und Ziele der Praktiken betrifft, geht der tibetische Buddhismus von zwei
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