Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 511

Glück und die Abwesenheit von Leid wünschen. Eindrucksvoll beschreibt Seine Heiligkeit der Dalai
Lama, der weltweit als die Verkörperung von Mitgefühl und Weisheit gilt, seine Grundeinstellung im
Kontakt zu allen Wesen so: „Jeder ist mein Freund. Ich gehe auf alle Menschen zu wie auf
Freunde, weil ich verstehe, dass sie sich Glückseligkeit wünschen.“ Hierin liegt eine fundamentale
und radikale Wahrheit. Es steht wohl niemand morgens auf und wünscht sich: „Heute werde ich
wirklich alles daran setzen, einen schlechten Tag zu erleben.“ In diesem Sinne sind wir alle gleich
– egal, welcher Rasse, welcher Nationalität, welchen Geschlechts oder welcher religiösen
Überzeugung wir sind oder welche Ausbildung wir genossen haben. Wenn Sie sich auf diese
Gemeinsamkeit konzentrieren, die alle Lebewesen mit Ihnen und Sie mit allen Lebewesen
verbindet, entsteht ein solides Fundament für Mitgefühl.
2.
Danach meditieren Sie dann sukzessive über Menschen, denen Sie sich verbunden fühlen. Das
kann Ihr bester Freund oder Ihre Mutter sein. Im tibetischen Kontext gilt die Mutter als
Verkörperung von Güte und Mitgefühl. Für viele Menschen in der westlichen Welt ist das jedoch
eine herausfordernde Vorstellung. Also kann es, abhängig von der Beziehung zu den eigenen
Familienangehörigen, unter Umständen besser sein, mit dem besten Freund bzw. der besten
Freundin zu beginnen und dieses Gefühl als Vorbild zu verwenden. Bedenken und erleben Sie,
wie sehr Sie sich für diesen Menschen Glück und Freisein von Leid wünschen.
3.
Denken Sie als Nächstes über die Güte dieser Menschen nach. Ihre Güte kann beabsichtigt sein
oder auch nicht. Weiten Sie dann dieses Gefühl der Dankbarkeit allmählich auch auf andere
Menschen aus, die freundlich zu Ihnen gewesen sind, aber mit denen Sie nicht so vertraut sind:
jemanden, der Ihnen zu essen gegeben hat, einen Busfahrer, der auf Sie gewartet hat und die Tür
für Sie geöffnet hat, oder jemanden, der Ihnen beim Tragen von schwerem Gepäck geholfen hat.
Vielleicht ist Ihnen das zum damaligen Zeitpunkt nicht aufgefallen, aber all das sind Taten der
Güte.
4.
Nach dieser Reflektion über die Güte beginnen Sie, wahrzunehmen, dass viele Menschen zu
Ihrem Wohlergehen beigetragen haben und Ihnen Augenblicke des Glücks verschafft haben. Dann
entwickeln Sie Dankbarkeit und den Wunsch, diese Güte zu erwidern. Langsam fassen Sie den
Entschluss, die Freundlichkeit, die Ihnen erwiesen wurde, zu erwidern und die Verantwortung
dafür zu übernehmen, beliebige Taten der Güte auszuführen.
5.
Nach diesen ersten vier Schritten der Vorbereitung Ihres Geistes auf ein Gefühl des Wohlwollens
können Sie beginnen, über die drei Ebenen der liebenden Güte für Freunde, neutrale Menschen
und später dann für Feinde zu meditieren.
Beginnen Sie mit Freunden. Weiten Sie Ihren Wunsch, dass sie Glück erleben und frei von Leid
sein mögen, auf sie aus. Dann vergegenwärtigen Sie sich Menschen, die für Sie neutral sind. Und
erst, wenn Sie sich dazu bereit fühlen, beginnen Sie damit, sich bei diesen Übungen Menschen zu
vergegenwärtigen, die Sie als Feinde empfinden, also Menschen, die Ihnen wirklich Probleme
bereiten.
6.
Nach diesen leichteren und direkteren Übungspraktiken können sich drei tiefere Ebenen des
Mitgefühls anschließen. Im Sinne der tibetisch-buddhistischen Tradition gibt es drei Ebenen mit
unterschiedlichen Mitgefühlsgraden, die alle durch Weisheit verstärkt werden.
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