Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 505

Praktische Anleitung in die klassische
buddhistische Meditation
Warum meditieren?
Der Hauptzweck jeder Geistesschulung liegt darin, den Geist zu transformieren, seine positiven
Qualitäten zu entwickeln und die bei einem ungeübten Geist auftretenden negativen Neigungen
und Aktivitäten zu verringern. Die Sitzmeditation ist eine der möglichen Formen der
Geistesschulung, aber sicherlich nicht die einzige Methode, um eine derartige Transformation zu
erreichen. Allerdings bietet die Sitzmeditation eine stärker geerdete Herangehensweise mit
weniger Ablenkung. Sie lässt sich vielleicht mit einer Laborsituation vergleichen, wo
Störungseinflüsse von außen auf eine Minimum reduziert werden.
Die buddhistische Tradition ist besonders für ihre unzähligen Methoden und Übungen bekannt, die
zur Kultivierung des Geistes entwickelt wurden. Hier folgt lediglich eine grobe Skizzierung der
wesentlichen Meditationskonzepte, -kategorien und -techniken. Die zahllosen Methoden und
Kategorien der buddhistischen Tradition mit ihrer Vielzahl an Übungen basieren letztendlich alle
auf zwei Axiomen, die in der Abhidharma-Literatur wie folgt formuliert werden: 1) Es ist möglich,
Leid und seine Ursachen zu beseitigen, und: 2) Eine wirksame Methode zur Linderung von Leid
muss mit Änderungen in den eigenen kognitiven und emotionalen Zuständen einhergehen, da die
Ursachen von Leid korrigierbare Fehler in der eigenen geistigen Veranlagung sind.
Eine spirituelle Ausbildung und Entwicklung beabsichtigt eine Einstellungsveränderung. Und
Meditation gilt als eine mögliche Herangehensweise dafür. Durch Meditation verringern wir unsere
kontraproduktiven Einstellungen und korrigieren unsere Gedanken in förderlicher Weise.
Selbstverständlich erfordert ein solcher Transformationsprozess wiederholtes Üben und
Sichvertrautmachen. Weder das pure Reden darüber noch ein bloßes Wunschdenken sind hier
hilfreich und führen zum Ziel. Der tibetische Begriff für Meditation,
gom
, bedeutet wörtlich so viel
wie „sich mit etwas vertraut machen“ (der entsprechende Begriff im Sanskrit,
bhavana
, bedeutet
Kultivierung). In diesem Sinne wird Meditation verstanden als die Kultivierung positiver geistiger
Qualitäten über einen Prozess des Sichvertrautmachens.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen zwei Arten von Meditationspraktiken: Śamatha
(Ruhiges Verweilen) und Vipaśyanā (Einsicht). Während der Geist bei den Śamatha-Praktiken
beruhigt und stabilisiert wird, wird dieser beruhigte Geist während der Vipaśyanā-Praktiken
benutzt, um Einsichten zu fördern, die sich auf die eigene Sichtweise auswirken und Täuschungen
entlarven.
 Śamatha kann als „Ruhiges Verweilen“ oder „Meditative Stille“ übersetzt werden. Mit Śamatha ist
nicht eine konkrete Meditationspraxis gemeint, sondern viele verschiedene Arten von
Meditationspraktiken, die zur Verfeinerung unserer Aufmerksamkeit dienen.
Aufmerksamkeitsverfeinernde Übungen sind nicht nur in buddhistischen Traditionen zu Hause. Es
handelt sich tatsächlich um eine Meditationspraxis, die eigentlich allen Traditionen und Systemen
vertraut ist, die die Aufmerksamkeit verbessern wollen und einen stabilen Geist anstreben. Im
buddhistischen Kontext ist Śamatha jedoch eine der grundlegenden Voraussetzungen, um
letztendlich zum Erwachen zu gelangen. Śamatha ist in einen größeren Kontext ethischer
Disziplinen eingebettet. Die Śamatha-Literatur spricht von mehreren begünstigenden Bedingungen
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