Mitgefühl: In Alltag und Forschung - page 507

Traditionen aus: Das Vehikel der
Sravakas
und
Pratyeka
-Buddhas (Hinayana-Buddhismus) und
der Bodhisattvas (Mahayana-Buddhismus). Während es in der Hinayana-Tradition in erster Linie
darum geht, still zu werden und die eigenen betrübenden Emotionen zu überwinden, kulminiert im
Mahayana-Buddhismus das Bestreben, positive Qualitäten zu entwickeln, in Bodhicitta – der
Intention, Buddhaschaft und Freiheit vom Leid zum Wohle aller Wesen zu erreichen.
Auf dem Weg zur Entwicklung von Mitgefühl gibt es zwei entscheidende Phasen. Die erste besteht
darin, Empathie zu spüren und mit dem anderen (leidenden) Wesen in Resonanz zu treten. Die
zweite besteht darin, den Wunsch zu entwickeln, dieses Leid zu lindern.
Es reicht nicht, sich ausschließlich auf das Leid einzustimmen. Denn dann besteht die Gefahr, in
dieser Resonanz stecken zu bleiben und mutlos zu werden. Das nützt niemandem – weder uns
noch anderen. Deshalb ist es entscheidend, dass wir auch die nächste Ebene anstreben, bei der
es darum geht, über die Einstimmung auf das Leid hinauszugehen und tatsächlich den Wunsch zu
entwickeln, dieses Leid und seine Ursachen – auf mehreren Ebenen – zu lindern. Es kann um eine
Erleichterung der tatsächlichen Situation gehen oder darum, falls möglich, die Ursachen zu
beseitigen, die das Leid erst ermöglicht haben. Dies gilt sowohl für das eigene Leid als auch für
das Leid anderer. Abhängig von der Situation und den Umständen fehlen uns jedoch zuweilen die
Fähigkeiten, richtig mit solchen Herausforderungen umzugehen. Da es viele verschiedene Grade
des Leids und entsprechende Ursachen gibt, stehen entsprechend verschiedenartige
Möglichkeiten zur Verfügung, diese zu lindern. Im Kontext dieses kurzen Beitrags wollen wir es
hierbei belassen und die Abhilfen nicht näher untersuchen, da die buddhistischen Quellentexte
oder – bei Krankheit – medizinischen Abhandlungen dafür wesentlich hilfreicher sind.
Wie entwickelt man Mitgefühl
Wenn wir Mitgefühl entwickeln wollen, müssen wir alle Wesen darin einbeziehen. Das gelingt
jedoch nicht spontan. Denn meistens sind wir mit uns selbst und unserem eigenen Wohlergehen
beschäftigt. Damit Mitgefühl gedeihen kann, muss man es für alle bewussten Wesen empfinden,
nicht nur für sich selbst. Folglich gilt es, den Pfad der Selbstzentriertheit zu verlassen und sich
einer Zentriertheit auf andere zuzuwenden, weil – wie uns die buddhistische Sichtweise vermittelt
hat – eine egozentrische Einstellung die Hauptquelle unseres Leids ist. Der erste und
entscheidende Schritt in der Entwicklung von Mitgefühl ist es, Gleichmut oder
Unvoreingenommenheit zu kultivieren. Wie bereits früher erläutert, darf man Gleichmut nicht mit
Gleichgültigkeit verwechseln. Gleichgültigkeit repräsentiert eine Haltung von „Es ist mir egal, wie
du dich fühlst oder in welcher Situation du dich befindest – ich bin mit meinen eigenen
Angelegenheiten beschäftigt“. Gleichmut dagegen drückt sich in einer Perspektivverschiebung
aus, die auf der Einsicht basiert: „Ich weiß, dass auch du dir Glückseligkeit wünschst – genauso,
wie ich selbst mir Glückseligkeit wünsche“. Mit der Annahme, dass nicht nur wir selbst uns Glück
wünschen, sondern jeder Mensch gleichermaßen diesen Wunsch verfolgt, durchbrechen wir den
Panzer der Selbstzentriertheit und Trennung. Wenngleich der Versuch, ein stabiles Maß solchen
Gleichmuts zu erreichen, zunächst Schwierigkeiten bereiten kann, kann sich Gleichmut doch
allmählich entwickeln.
Wenn wir Mitgefühl praktizieren, schließen wir Menschen mit ein, zu denen wir unterschiedliche
Beziehungen unterhalten: Freunde und Familienangehörige ebenso wie neutrale Bekannte und
Feinde. Die Kategorie von Menschen, die wir als Feinde bezeichnen, in unsere Meditationspraxis
einzubeziehen, kann eine herausfordernde Aufgabe sein. Wann immer wir an Feinde denken,
haben wir Menschen vor Augen, die unser inneres Gleichgewicht, unseren eigenen, in sich
geschlossenen Frieden bedrohen. Normalerweise denken wir, dass dieser Widersacher darauf aus
ist, uns etwas anzutun. Und so jemandem unsere liebende Güte und unser Mitgefühl anzubieten,
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